Mathe, Englisch, Fürsorge – im Brennpunktviertel steht Tugend auf dem Stundenplan

Ein Verein bietet in einem Brennpunktviertel Unterricht mit Fokus auf Ethik und Werte an.

Gelsenkirchen. „Wo ist dir heute Fürsorglichkeit begegnet?“, fragt Ina Seidel-Rarreck vom Verein „Virtues Project“ einen Schüler. Der ist sich unsicher, ihm falle nichts ein, meint er. Seidel-Rarreck fragt weiter: „Haben deine Eltern dir heute Frühstück gemacht?“ Der Schüler schüttelt den Kopf, das mache er sich immer selber. „Dann hast du dir heute selbst Fürsorge gezeigt“, lobt Seidel-Rarreck ihn.

Die Malteserschule liegt in Gelsenkirchen-Neustadt, einem Brennpunktviertel. Für die Schüler steht heute nicht Mathematik auf dem Stundenplan, sondern „Tugendunterricht“. Ursprünglich stammt das Projekt aus Kanada und wurde von zwei Psychologen in den 1980er Jahren entwickelt. Auch in Deutschland haben sich Trainer zusammengeschlossen, der Verein bietet inzwischen Online-Coachings und Seminare für Lehrer an. „Tugenden als Begriff sind nicht geschützt“, erklärt Seidel-Rarreck. Fürsorge, Mitgefühl oder Höflichkeit seien aber in allen religiösen Schriften zu finden. Dazu handle es sich um Fähigkeiten, die man gezielt einsetze. Fleißig sein bis zum Burnout sei nicht das, was ihr Unterricht vermittle: „Eine Tugend ist immer eine Charakterqualität in der ausgewogenen Mitte.“

Kultur der Wertschätzung

Seidel-Rarreck sieht die Arbeit ihres Vereins als Antwort auf die Bildungsfrage, von einer Kultur der Fehlersuche zu einer Kultur der Wertschätzung gegenseitiger Qualitäten zu kommen und Kinder nicht nur in Mathematik und Deutsch, sondern auch ethisch-moralisch zu erziehen. „Mit einem Tag im Klettergarten ist es nicht ge- tan.“ Mit einfachem Lob wie „Klasse gemacht“, würden die Schüler ihre eigenen Qualitäten und Fähigkeiten gar nicht erkennen. Stattdessen sollten Lehrer Tugenden wie Geduld, Fleiß oder Mitgefühl hervorheben. „Das sind Vokabeln, die muss ich als Lehrer kennen.“

Um die Tugend Höflichkeit zu trainieren, führt Seidel-Rarreck ein Begrüßungsritual mit den Schülern durch: Sie steht an der Tür zur Klasse und heißt jede Schülerin und jeden Schüler einzeln willkommen. Dabei sollen sie üben, Augenkontakt herzustellen. Manche von ihnen treten selbstsicher vor Seidel-Rarreck, andere hasten peinlich berührt an ihr vorbei.

Durch die Übung soll die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler verbessert werden. So können Lehrer direkt zu Schulbeginn sehen, wenn es einem Schüler nicht gut geht. „Wenn die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler gut ist, kann man super lernen“, argumen- tiert Seidel-Rarreck. Lehrer nähmen immer auch eine Vorbildfunktion für die Kinder ein. Zwar seien die Lehrer der Malteserschule erst skeptisch gewesen, das Programm komme inzwischen aber gut an. Mittlerweile forderten die Schüler Höflichkeit sogar ein.

Um die Geduld der Schüler zu trainieren, hat Seidel-Rarreck eine weitere Übung mitgebracht: Die Uhr im Klassenzimmer wird abgehangen, die Schüler sollen schätzen, wann eine Minute vergangen ist. Jeremi schließt die Augen, zählt konzentriert die Sekunden. Die Schüler kennen die Übung schon, nach 55 Sekunden ruft der erste von ihnen: „Stop!“ Das sei ein relativ gutes Ergebnis, meint Seidel-Rarreck, denn viele Schüler würden beim ersten Versuch oft nur 40 Sekunden durchhalten.

Aus ihrer Sicht ist es gerade bei Kindern wichtig, Tugenden zu fördern und auszubilden. Auf Social-Media-Plattformen wie Tiktok würden sie auf teils verstörende Videos stoßen, die sie ungefiltert wahrnähmen und weiterschickten. „Es ist eine Verrohung bei den Kindern zu beobachten“, kritisiert sie, es mangele an ethisch-moralischer Werteerziehung für die Kinder.

Wichtig für die berufliche Zukunft

Gerade für die Zukunft der Schüler im Beruf sei der Unterricht enorm wertvoll, denn da komme es nicht auf eine Eins oder Vier auf dem Zeugnis, sondern auf zwischenmenschliche Fähigkeiten an. Dort brauche man Tugenden wie Pünktlichkeit, Vertrauen oder Zuverlässigkeit. Bei den Schülern kommt der Unterrichtu gut an: Nach der Stunde spricht einer von ihnen Seidel-Rarreck auf dem Gang an: „Hat Spaß gemacht heute!“

Nils Bühner, Kölner Stadt-Anzeiger (23.10.2023)

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