Gelsenkirchener Schüler bekommen im Unterricht Begriffe wie „Sorgfalt“, „Achtsamkeit“ und „Respekt“ vemittelt. Warum die Schule dort einspringen muss, wo Gesellschaft und Familie oft versagen.
Gelsenkirchen. Die vertrocknete Blüte einer Sonnenblume macht die Runde im Stuhlkreis der Achtklässler. Besonders die Kerne erregen Interesse. Einige probieren, andere nehmen einen mit. Zum Einpflanzen. „Wenn daraus eine neue Sonnenblume wachsen kann, bedeutet das doch, dass alle Angaben, wie die mal aussehen wird, im Samen gespeichert sind. Wie auf einem Computerchip. Genau so ist das mit den Tugenden. Die sind alle in uns angelegt. Und so, wie wir diese Pflanze pflegen, müssen wir auch die guten Eigenschaften in uns selbst pflegen.“
Ina Seidel-Rarreck ist selbstständige Trainerin für moderne Umgangsformen, Tugenden und Werte. Jede Woche kommt sie in die Malteserschule, eine Förderschule mit Schwerpunkt Lernen sowie seelische und emotionale Entwicklung im Gelsenkirchener Süden. „Die Tugend der Woche ist die Sorgfalt“,
klärt die 54-Jährige, was heute auf dem Programm steht. Für manch einen im Raum ist das noch ein abstrakter Begriff. „Das bedeutet, man trägt Sorge, dass etwas gut klappt. Das hat viel zu tun mit der Tugend vergangenen Woche. Welche war das?“ Ein Schüler meldet sich: „Achtsamkeit.“ Richtig. „Aber man braucht noch vier andere Faktoren.“ Nummer Eins: „Zeit.“
Das verdeutlicht ein praktisches Beispiel. Zwei weiße Blätter mit dem Bild eines Osterhäschens in der Mitte werden verteilt. Jeweils eine junge Dame soll diesen ausschneiden. Die eine in 30 Sekunden. Die andere in der Zeit, die sie braucht. Natürlich rägt das erste Ergebnis Spuren der Eile. Sofort überträgt die Trainerin dies auf die täglichen Hausaufgaben. „Wenn ich die unter Zeitdruck mache, sehen die so aus. Denkt immer an den Hasen.“
Debatte um Werte
Im vergangenen Jahr wurde deutschlandweit die Debatte um Werte derart groß, dass der Verband Bildung und Erziehung eine Studie dazu in Auftrag gab. Das Ergebnis: Eltern wie Lehrern sind Tugenden wichtig. Gleichsam sehen sie sie nicht mehr vermittelt. Bestenfalls gut die Hälfte der Eltern geben je nach Fragestellung an, der eine oder andere Wert werde erfolgreich gelehrt. Die Vermittlung wird heute im Wesentlichen als eine Aufgabe der Schule angesehen.
Früher wirkten an der Erziehung von Kindern viele Menschen mit, allen voran die unterschiedlichen Generationen innerhalb der eigenen Familie. Aber auch die Mitglieder der individuellen sozialen Strukturen, die Nachbarn, der Fußballtrainer, der nette Polizeibeamte, der den Bezirk zuständig war. Heute beherrschen der Drang nach Selbstentfaltung und der daraus resultierende Individualismus das Leben. Das Miteinander in der realen Welt leidet darunter, so die Studie. „Man müsste tatsächlich erst die Eltern schulen“, sagt Ina Seidel-Rarreck.